Als Marianne Lehrian aus Beedenkirchen im Odenwald in der NRD anfängt, heißt der Bundeskanzler Helmut Schmidt, Walter Scheel ist Bundespräsident. Ludwig Erhard ist Alterspräsident des 8. Deutschen Bundestags. Die Leiterin des Wohnverbunds Groß-Bieberau blickt auf vier Dekaden NRD-Geschichte zurück.
Wir schreiben das Jahr 1978.
Marianne Lehrian, 19 Jahre jung, kommt frisch von der Alice-Eleonoren-Schule in
Darmstadt, Fachschule für Sozialpädagogik. Sie will ein Anerkennungsjahr
absolvieren, über eine Freundin, die damals in der NRD-Küche arbeitet, hört sie
von der Nieder-Ramstädter Diakonie und bewirbt sich. „Der Pfarrer, bei dem ich
das Vorstellungsgespräch im Fliednerhaus hatte, fragte, warum ich so selten am Religionsunterricht
teilnahm. Ich musste ihm begründen, dass dieser nachmittags stattfand, da ich
aber in Beedenkirchen wohnte, war der Weg für mich mühsam. Als er Beedenkirchen
hörte, lachte er: Seine Frau war mit meinem Opa in einer Klasse – ich durfte in
der NRD anfangen“, erzählt sie.
In der Erzieher-Schule kommt ihre Ankündigung, das
Anerkennungsjahr in der NRD zu absolvieren, nicht gut an. Als ausgebildete Erzieherin
dem Ruf eines „Heims“ zu folgen, trifft auf Unverständnis. Doch sie zieht es
durch, Marianne Lehrian arbeitet im „Mädchenhaus“ Eben-Ezer. Sie fühlt sich
wohl dort, obwohl sie die damaligen Erziehungsmaßnahmen kritisch sieht –
bestimmen, bestrafen, belohnen, das sind nicht ihre Methoden. Sie ist die Frau
für die antiautoritäre Erziehung, was dazu führt, dass sie sich mit ihren
Kolleginnen – es sind ausschließlich Frauen – des Öfteren „ordentlich reibt“.
„Menschen
mit Behinderung durften keinen Sex haben, das war der Geist der Zeit“, erinnert
sich Marianne Lehrian kopfschüttelnd. Doch ihre damalige Teamleitung sieht es
zum Glück anders, fährt die Bewohnerinnen abends heimlich zum Tanzkurs, spricht
über Verhütungsmethoden. Wie in dieser Zeit üblich, schmeckt das Essen, gemacht
für viele, oft fad, sodass die gesamte Wohngruppe in das Lädchen auf dem
NRD-Gelände geht, um sich leckere Sachen zu kaufen. Die Bettwäsche wird
punktgenau und gewaschen aus der hauseigenen Wäscherei angeliefert. „Aber was
hat das mit dem normalen Leben zu tun?“, stellt Mariann Lehrian
infrage. Und so wäscht die Gruppe immer öfter selbst. „Wir wollten das Leben
der Bewohnerinnen so begleiten, dass sie selbstständig leben können“, sagt sie.
Zimmer putzen und abstauben, jede, wie sie kann. Auch gibt es Taschengeld für
jede Bewohnerin, ein kleines Büchlein dazu, um zu notieren, was man ausgibt.
Am
Ende des Anerkennungsjahres will die NRD Marianne Lehrian als Erzieherin übernehmen
– in Vollzeit. „Das war einerseits toll, andererseits war mir das zu viel“,
erzählt sie. Sie ist jung, will studieren, Spanisch und Französisch lernen, sie
arbeitet nebenbei in einer Diskothek – und einigt sich auf 50 Prozent
Beschäftigungsverhältnis. Bis 1983 bleibt die gebürtige Odenwälderin im Haus
Eben-Ezer.
Die erste Außenwohngruppe der
NRD
Dann zieht die Gruppe ins Haus
Emmaus, das der damalige NRD-Verwaltungsleiter kurz vorher an die NRD verkauft
hat. In einem „normalen“ Haus kann man „normal“ leben, das ist die Idee der
Gruppenleitung. Es ist die erste Außenwohngruppe der NRD. Man wäscht und kocht selbst,
baut Salat im Garten an, installiert einen Nachtbereitschaftsdienst, der oft „nur“
aus Studierenden ohne spezifische Qualifikationen besteht. 1989 zieht die Gruppe
in die Dornwegshöhstraße 47.
Marianne Lehrian organisiert Freizeiten, manchmal
bis zu drei Wochen lang. Im Bus ist viel Platz, Fahrräder und Fernseher werden
mitgenommen. Das Gepäck der Bewohner*innen wird in blauen Müllsäcken verstaut,
wenn die Koffer ausgehen. „Das war sehr lustig“, sagt die Macherin und lacht
herzhaft, um kurz darauf sehr ernst zu werden. Es gibt nämlich auch Unschönes
in ihrer NRD-Zeit. Etwa, als sie in ihrem ersten Jahr im heutigen I-Bau einen
angeketteten Mann sieht, der bei offener Türe auf Toilette sitzt. „Ich habe das
damals nur schwer verkraftet. So darf man doch nicht mit Menschen umgehen!?“,
sagt sie. Auch der „Kasernenton“ mancher Mitarbeitenden den Klient*innen
gegenüber macht ihr schwer zu schaffen. „Wir waren zu der Zeit weit entfernt
von Respekt“, sagt sie.
Der
Umbruch
Zurück in die Dornwegshöhstraße
47. Nach knapp 25 Jahren mit der „Mädchengruppe“ aus dem Haus Eben-Ezer merkt
Marianne Lehrian, dass sie sich verändern will. Im Jahr 2002 lernt sie das Haus
„Bo 3“ kennen, Wohnungen für zwölf intensiv pflegebedürftige Menschen. „Ich war
schockiert, wie es da ausgesehen hat“, erinnert sie sich. Keine Kuscheldecken,
Plastikgeschirr, Essensspritzer an den Wänden, wenig Beschäftigungsmaterial. Die
Bilder lassen sie von da an nicht mehr los. Und obwohl sie keinerlei Erfahrung
in der Pflege hat, bewirbt sie sich dort als Teamleiterin in den Häusern Bo 2
und Bo 3 – und wird genommen. „Die katastrophale Wohnsituation in der WG 3 und
die fehlende Tagesstruktur in beiden WGs hat das Verhalten der Bewohner*innen
absolut negativ beeinflusst“, sagt sie. „Jeder Tag war gleich.“ Die Eröffnung
der NRD-Tagesstätte in dieser Zeit kommt ihr als Teamleiterin zweifelsohne
entgegen, jetzt haben die Bewohner*innen eine Tagesstruktur. Marianne Lehrian
geht durch eine „äußerst kräftezehrende Zeit“. „Letztlich ist es richtig toll
geworden“, sagt sie heute.
2007 führt sie ihr Weg nach Erbach, zum ersten Mal
als Wohnverbundsleiterin. Der neue Standort ist noch ein Rohbau, an ihren
ersten Tagen sitzt sie dort im Kerzenschein über ihren Plänen. In Erbach kann
sie, anders als zuvor, von Anfang an mitgestalten, stellt das Team zusammen. „Das
war grandios“, schwärmt sie. „Jeder, der da war, wollte auch da sein.“ 2013
zieht es sie in gleicher Position an ihren jetzigen Arbeitsplatz nach Groß- Bieberau.
Diesmal ist der Grund ein pragmatischer: Sie wohnt in Klein-Bieberau, die Wege
sind kurz, die Winter im Odenwald hart und niemand wird jünger.
Egal, an
welchem Standort sie war – überall habe sie sich wohlgefühlt, sind ihr „ganz
viele tolle Menschen begegnet“, betont sie immer wieder. Kurz erzählt sie von einem
heftigen Streit unter Kolleg*innen, ihre Kündigung war bereits abgeschickt. Sie
schläft eine Nacht drüber und merkt, dass ihr Weg in der NRD noch lange nicht zu
Ende ist. Sie ruft ihren Vorgesetzten an und bittet, die Kündigung „zur Seite zu
legen“ – Thema erledigt. Marianne Lehrian schaut auf sowas nicht gern zurück.
Der Mensch im Mittelpunkt ihres Schaffens
Die private Marianne Lehrian
probiert gern Dinge aus, sie studiert, webt, steppt, baut Wein an, malt oder
näht. Ihre Konstante heißt Arbeit. Oft bewegt sie sich im Spannungsfeld
zwischen Emotion und Ratio, wertschätzt dabei aber immer den Menschen, der ihr
gegenüber ist. Ganz egal, ob mit Beeinträchtigung oder ohne. Sie wusste schon
immer, was sie will – und was nicht. Genau das gesteht sie allen Klient*innen
zu: „Wichtig ist, dass wir herausfinden, was sie wirklich möchten – und was
nicht.“
Von professionellem Abstand zu den Menschen in ihrer Arbeit, wie
erstmals in den 1990er Jahren gefordert, hält sie bis heute wenig. „Ich bin
fest davon überzeugt, dass man nur über eine Beziehung etwas gestalten kann.
Für mich ist Beziehung die Basis für Entwicklung“, sagt sie. „Wir sind es, die
die Biografien mit den Menschen schreiben. Wir müssen es hinkriegen, dass uns
jemand sagt, was ihm nicht gefällt. Und wir sollten alle Klient*innen darin bestärken,
sich zu wehren, wenn sie ungerecht behandelt werden.“ Marianne Lehrian packt
sich dabei an die eigene Nase: „Auch bei mir passieren viele Dinge ganz
automatisch. Aber wir sollten uns trotz Alltagsstress gegenseitig immer wieder dafür
sensibilisieren.“
Am 1. August 2023 wird sie nach 45 Jahren NRD in Ruhestand gehen. Darauf freut sie sich sehr, will mit ihrem Mann und Hund Hannes im kleinen VW-Bus verreisen, das Leben genießen. Das Kapitel NRD hat sie dann aber keinesfalls beendet. „Ich möchte wiederkommen, dann vielleicht als gesetzliche Betreuerin“, blickt sie in die Zukunft. Um die Biografien der Menschen weiterschreiben zu können.
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